DIE ZEIT: Inklusion – Ich bin Joscha … 6. Juli 201629. Februar 2024 [29.07.2017] DIE ZEIT, Nr. 28, 06.07.2017 Inklusion – Ich bin Joscha … … weiblich, 13 Jahre alt, Autistin. Und das hab ich zu sagen: Von Joscha Röder Link http://www.zeit.de/2017/28/inklusion-autismus-kinder-mit-behinderung-schule-paedagogik “… Es reicht, wenn ich sage: Ich bin Autistin und körperlich behindert. Ich besuche mit Schulbegleitung die siebte Klasse einer Gesamtschule. Mit acht war ich wegen Epilepsie im Krankenhaus. Nach der Magnetresonanztomografie (MRT) meines Gehirns flüsterte eine Ärztin zu Mama: Wie kommunizieren Sie mit Ihrem Kind? – Mama sagte: Warum fragen Sie sie nicht selbst? – Ich sagte: In aller Regel verbal. … Was ich verstehe: In meinem Kopf sieht es ganz anders aus als in normalen Schädeln. Nicht selber greifen, gehen, sprechen, sehen, essen, atmen können – das nennt man schwerstmehrfachbehindert. Das erwartete die Ärztin nach diesem MRT. … Ich bin anders. Bei vielen Dingen brauche ich Hilfe. Ich kann mich nicht gut anziehen oder mir Essen machen, noch nicht allein rausgehen oder einkaufen. Ich kann mir keine Gesichter merken. Verwechsele Mann und Frau und alt und jung, Papa mit dem Papst, weil beide graue Haare haben. Manchmal vergesse ich, Augen und Hände zusammen zu nutzen. Ich kleckere, und mir fällt viel hin. Ich weiß nicht, wie man mit Fremden spricht. Daheim oder mit Begleitung nimmt mir das meist keiner übel. Ich sei gut so, wie ich bin. Vergiss das nie, sagt Mama. … Ich möchte erzählen, was mir zu Inklusion einfällt. Behinderte haben das Recht zur Teilhabe. Das steht in einer UN-Konvention. Die Nichtbehinderten sollen die Bedingungen dafür schaffen. Das tun sie aber nicht. Und schon gar nicht richtig. … Ich habe dann viele Tests mitgemacht. Wenn es um Gutachten über mich ging, waren Defizite immer wichtiger als das, was ich kann. … Toll auf der Grundschule war: Die anderen Kinder fanden nicht schlimm, dass ich anfangs noch Windeln trug. Sie akzeptierten mich, wie ich war. … Aber jetzt, auf der Gesamtschule, geht die Kämpferei weiter. Dass ich Schulbegleitung und Schülerspezialverkehr brauche, muss Mama ständig beantragen. Für meine Autismus-Therapie und die Klassenfahrt muss sie Extra-Anträge stellen. Die werden monatelang nicht bearbeitet und dann abgelehnt oder gekürzt. Das Amt schreibt: Ich darf an der Klassenfahrt teilnehmen. Aber das sei noch keine Bewilligung einer Begleitung. So als wüssten die nicht, dass ich mit 100 Prozent Behinderung ohne Hilfe nicht kann. … Warum öffnet man nicht Förderschulen für nicht behinderte Schüler? … Ich habe Angst, wenn es heißt, wir seien zu teuer. Papa sagt, ich solle nachdenken: Wie viele Menschen lebten davon, dass es Menschen wie mich gibt? Wie viele Beamte und Angestellte, wie viele Ärzte, wie viele Betreuer? Daran musste ich denken, als ich den Artikel von Stefanie Flamm las: Wie viel verdient eine Schulärztin, die Sätze von sich gibt, dass ein Down-Syndrom-Junge doch überhaupt nichts lernt? Wann lernt sie etwas? … Ich will keinen Schutzraum. Ich will nicht, dass ich betteln muss um Teilhabe. Ich will dazugehören, wie ich bin. Ich will, dass die Behörden und die Medien aufhören, Behinderte wie lästige Mängelexemplare zu behandeln oder wie Sozialschmarotzer. … Jetzt bekomme ich in Mathe keine Note mehr. Warum? – Weil ich in der Praxis nichts von dem verstehe, was ich berechne. Ich kann den Unterschied zwischen Meter und Zentimeter oder den zwischen Euro und Cent nicht begreifen. Das hängt damit zusammen, dass ich nur zweidimensional sehe. Die Bildverarbeitung in meinem Hirn ist so, dass ich Größen und Entfernungen nicht unterscheiden kann. Für mich ist unbegreiflich, dass ein Spielzeugauto in meiner Hand und das Auto unten auf der Straße unterschiedlich groß sein sollen. Dass ich in das eine einsteigen kann und in das andere nicht. Also bin ich geistig behindert, nicht wahr? Ja, in solchen Punkten bin ich das. … Wir waren auf einer Ausstellung von Down-Syndromlern. Da war so viel Buntes. Astronauten, Menschen vom anderen Stern. Kunst und Schauspiel. Das sollten Autisten auch mal machen. Da war auch ein Raum über das, was man mit Behinderten im Nationalsozialismus getan hat. Ich frage Mama: Aber das kommt nicht wieder? – Sie sagt: Wo denkst du hin, natürlich nicht. Aber ich habe es gesehen: wie sie schluckte.”
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