[10.12.2017] DIE ZEIT, Nr. 48, 23.11.2017
Siemens – Ist die Zeit der Riesenkonzerne vorbei?
Seit 170 Jahren erfindet Siemens sich ständig neu. Diesmal geht es der Belegschaft zu weit.
Von Dietmar H. Lamparter
Link http://www.zeit.de/2017/48/siemens-joe-kaeser-arbeitsplaetze-entlassungen
“Vor zwanzig Jahren feierte Siemens seinen 150. Geburtstag. …
Bankanalysten und Investoren war der komplexe Konzern damals zu langsam und zu bürokratisch. Sie forderten höheres Tempo und höhere Gewinne.
… Seit die Konzernführung kurz nach dem Jubiläum, 1998, die zuvor mit Milliardeninvestitionen gepäppelte Produktion von Mikrochips (Infineon) aus dem Konzern herauslöste und an der Börse verkaufte, ging es munter weiter mit den Abspaltungen. Produktionen wurden verkauft, verselbstständigt oder eingestellt. Vor zwei Jahren erst veräußerte Siemens seine Anteile an der Hausgerätesparte an Bosch, in diesem Jahr wurden die letzten Anteile von Osram verkauft.
Siemens heute, das sind immer noch rund 380.000 Menschen, davon 115.000 in Deutschland, die in acht “Divisionen” nach Vorgabe der Siemens-Zentrale jeweils hohe Renditeziele (11 bis 13 Prozent) erfüllen sollen.
Dies sei “ein historischer Erfolg”, lobte Kaeser seine Simensianer, die meisten Geschäfte seien “so stark wie nie”. Er schlug eine Erhöhung der Dividende für die Aktionäre vor und versprach auch den Beschäftigten unterhalb des Topmanagements ihren Anteil. Die Ankündigung eine Woche später wirkt da fast zynisch: Der Siemens-Vorstand kündigte an, weltweit 6.900 Arbeitsplätze in den Werken für Gasturbinen und Generatoren abzubauen, davon die Hälfte in Deutschland; drei Standorte sollen hierzulande komplett geschlossen werden, ein weiteres Werk steht zum Verkauf. …
Der Vorstand um Joe Kaeser hat ein ganz anderes Bild vor sich. Um im internationalen Konkurrenzkampf mit den jeweiligen “fokussierten Spezialisten” mitzuhalten, müssten alle einzelnen Siemens-Geschäfte für sich “mindestens so gut sein wie deren stärkste Wettbewerber”. Der große Tanker wird zum flexiblen Verband von Schnellbooten umgebaut. Dabei dürfe es keine Quersubventionen über die Divisionen hinweg geben, heißt das Credo. …
Gemeint ist der ewige Rivale General Electric (GE), der größte Industriekonzern der USA. Ebenfalls ein Mischkonzern, der nicht nur mit Computertomografen und im Kraftwerksgeschäft heftig mit Siemens konkurriert. Jahrzehntelang haben Investoren den Siemensianern vorgehalten, sich ein Beispiel an den Amerikanern zu nehmen, weil diese aggressiver wuchsen und mehr verdienten. Doch jetzt kündigte der neue GE-Chef eine drastische Restrukturierung des aufgeblähten Konzerns an. Stellenstreichungen und der Verkauf großer Unternehmensteile sollen den Konzern kleiner und wendiger machen. Die Dividende soll um die Hälfte gekürzt werden. Der Aktienkurs stürzte ab. …
Auch die heutigen Gewinnbringer Medizintechnik und die Bahnsparte gehörten früher mal zu den Sorgenkindern bei Siemens. Doch unter dem schützenden Konzerndach konnten sie sich wieder berappeln. Was aber, so fragen sich die Arbeitnehmervertreter, wenn die einzelnen Sparten in Krisenfällen allein auf sich gestellt sein werden? …”