DIE ZEIT: Umsiedlung in China – Der große Stadtplan

[ 14.01.2018 ] DIE ZEIT, Nr. 53, 20.12.2017
Umsiedlung in China – Der große Stadtplan
Hundert Millionen Bauern siedelt Chinas Regierung in Hochhäuser um, ganze Dörfer ziehen in ein Gebäude. Das soll Wohlstand bringen. Der Fotograf Justin Jin dokumentiert das historische Vorhaben seit vier Jahren. Hier berichtet er, was das neue Leben mit den Betroffenen macht.
Von Justin Jin

Link  http://www.zeit.de/2017/53/china-wachstum-wohlstand-umsiedlung-bauern-hochhaeuser

“… Über Generationen hinweg pflanzte Lis Familie Gemüse in Liaocheng an. Die Stadt liegt in der Provinz Shandong, einer Kornkammer im Osten Chinas. Vor ein paar Jahren aber haben die Behörden Lis Land beschlagnahmt, sie wollten dort Eigentumswohnungen hochziehen. Wo einst Gemüse wuchs, findet sich heute nur mehr Bauschutt.
Li ist einer von vielen Millionen chinesischer Bauern, die kein Land mehr haben und sich jetzt an ein neues Leben gewöhnen müssen. Chinas Führung will sie zu Stadtbewohnern machen. Lis Leben hatte sich diesem Plan vollständig und augenblicklich zu unterwerfen. “Die Behörden gaben uns zwei Wochen Vorwarnung”, sagt Li. “Wir haben gepackt und sind ausgezogen.”
Bis dahin verfolgte die kommunistische Regierung einen anderen Plan. Jahrzehntelang hatte China die Welt mit Waren versorgt, die von günstigen Arbeitskräften produziert wurden. Dann aber exportierte das Land weniger nach Europa und Amerika als zuvor. Als Reaktion darauf fasste die Führung einen neuen Plan: Wohlstand durch Urbanisierung.
Landesweit sollen sich rückständige Orte in produktive Zentren und Märkte mit einer neuen, konsumfähigen Einwohnerschaft verwandeln, so soll das Land weniger abhängig vom Ausland werden. Innerhalb von bloß sieben Jahren – 2014 bis 2020 – sollen 100 Millionen Bauern zu Stadtbewohnern mutieren. Und weil viele Großstädte Chinas heute schon überlaufen sind, bringt die Regierung die Städte zu den Bauern. …

Bis 2030 werden Prognosen der Weltbank zufolge 70 bis 80 Prozent der Chinesen in Städten wohnen, rund eine Milliarde Menschen. China wird dann stärker urbanisiert sein als westliche Staaten wie Deutschland und die USA. …

Peking verfolgt mit Macht das Ziel, auch das Hinterland ökonomisch auf eine höhere Stufe zu heben – nicht nur ausgewählte Schlüsselmetropolen vorzugsweise an den Küsten. Überall sollen Chinesen künftig Hochtechnologieprodukte entwickeln, anstatt sie nur zusammenzusetzen oder im Acker zu graben.
Größtes Ballungsgebiet wird die Megaregion Jing-Jin-Ji sein, mit Peking im Mittelpunkt. 130 Millionen Menschen werden Schätzungen zufolge dort und in den umliegenden Städten, Kleinstädten und Dörfern leben. …

Das “neue Silicon Valley” Shenzhen mit seinen zwölf Millionen Einwohnern – 1979 waren es noch 30.000 – ist dank der Sonderpolitik der Regierung und der ländlichen Wirtschaftsmigranten nun Heimat der größten Technologiekonzerne Chinas (etwa Namen wie Tencent und Huawei) und zieht Scharen von Wissenschaftlern mit Doktortiteln aus dem ganzen Land an. Mit ihren rasch wachsenden Nachbarstädten Guangzhou, Macau und Zhuhai verwächst Shenzhen zu einer regelrechten Megalopolis, die bei der Volkszählung von 2015 auf 108,5 Millionen Einwohner kam – das entspricht einem Drittel der Einwohnerzahl der Vereinigten Staaten. …

Innerhalb von zwei, drei Jahren werden die entwurzelten Bauern in die dicht gedrängten neuen Hochhäuser umgesiedelt. Diese “Entschädigungshäuser” werden – völlig ironiefrei – oft nach jenen Dörfern benannt, auf deren Boden sie stehen. Im Versuch, das alte soziale Gefüge wiederherzustellen, werden ehemalige Nachbarn auch wieder in aneinandergrenzenden Wohneinheiten untergebracht. …

Luos Ehemann war Dorfsekretär, aber auch dieses Amt schützte die Familie nicht vor der Vertreibung. “Als sie mein Zuhause abrissen, brach mir das Herz”, sagt Luo. “Aber wissen Sie, unsere Wohnung ist sauber, es gibt eine Toilette, es sind keine Moskitos da, und man muss auch nicht auf dem Feld arbeiten.” Abhängig von den örtlichen Bestimmungen erhält jedes Mitglied einer umgesiedelten Familie 40 bis 80 Quadratmeter Wohnfläche zugeteilt. Weil sie fünf Personen sind und ihr Ehemann einen politischen Posten hatte, erhielt Luos Familie also drei Wohnungen à 100 Quadratmeter. …

Ich bin Auslandschinese, insofern betrachte ich die Entwicklungen als besorgter Bürger, aber auch als zweifelnder Außenstehender. Während ich kreuz und quer durchs Land reise und versuche, einer nachvollziehbaren Wahrheit näherzukommen, wächst in mir das Gefühl, dass Peking grundsätzlich richtig liegt: Quer durch das Volk ist wachsender Wohlstand zu beobachten – wie geplant vom Konsum getrieben. Und dennoch: Die Massenumsiedlung wirft brisante Fragen nach den Rechten des Individuums auf und nach der Richtung, in die die Menschheit sich bewegt. Was geschieht mit der Erde und ihren Ökosystemen, wenn Jahr um Jahr 16 Millionen Subsistenzbauern in die konsumierende Mittelschicht drängen? Wohin führt es, wenn eine einzige Partei eine Milliarde Städter erschafft?
Sicher ist: In wenigen Jahrzehnten will die Volksrepublik China das erreichen, wofür die Industrienationen ein Jahrhundert benötigten. Die neue Form der Urbanisierung macht Millionen chinesischer Bauern zu Opfern und Profiteuren des Wandels. Und zwar gleichzeitig.”

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