DIE ZEIT: Opioide – Betäubte Bürger

[11.02.2018] DIE ZEIT, Nr. 04, 18.01.2018
Opioide – Betäubte Bürger
Amerikas weiße Mittelschicht ist süchtig nach Schmerztabletten. US-Präsident Trump beschuldigt mexikanische Dealer. Doch wer genauer hinschaut, begreift: Die eigene Pharmaindustrie hat die Menschen abhängig gemacht.
Von Kerstin Kohlenberg

Link  http://www.zeit.de/2018/04/opioide-usa-drogen-tote-schmerztabletten-mittelschicht

“… Auch diese Frau war an der Überdosis eines opiumähnlichen Mittels gestorben. …

Nashua ist zum Symbol einer Epidemie geworden, die mit dem herkömmlichen Bild eines Drogenproblems nicht viel zu tun hat. Sie macht weder vor Wohlstand noch vor Bildung halt und hat längst ganz Amerika befallen. 64.000 Tote zählten Ermittler wie Kim Fallon 2016 in den USA, zwischen 2000 und 2015 ist eine halbe Million Amerikaner an einer Überdosis von Opioiden gestorben. Das sind mehr Menschen, als durch Autounfälle ums Leben kamen. Während in den meisten westlichen Nationen die durchschnittliche Lebenserwartung steigt, sinkt sie in den Vereinigten Staaten.

Donald Trump glaubt, dass an alldem mexikanische Drogendealer schuld sind sowie die Schwäche jedes einzelnen Abhängigen. …

Die Menschen haben die Drogen von ihrem Hausarzt verschrieben bekommen, als Schmerzmittel. …

Die Gefahr der Abhängigkeit ist hoch. In New Hampshire werden dennoch pro 100 Einwohner jedes Jahr 72 Rezepte für opioidhaltige Schmerzmittel verschrieben. 97,5 Millionen Amerikaner konsumieren solche Mittel laut der staatlichen Suchtbehörde regelmäßig. Das sind mehr Menschen, als es in den USA Raucher gibt. …

Hatten die Pharmafirmen die Konsumenten ihrer Schmerzmittel ausreichend über Nebenwirkungen informiert? Und was war mit den Ärzten? Warum verschrieben sie Medikamente, die viele Menschen nicht gesund machten, sondern offensichtlich in den Tod führten? …

Nach Jahren des wirtschaftlichen Stillstandes setzt der damalige Präsident Bill Clinton auf mehr Freiheit für die Wirtschaft. Er dereguliert viele Branchen, denn Deregulierung, so lautet sein Kalkül, führe zu schnelleren Entscheidungen, also zu mehr Investitionen, also zu mehr Arbeitsplätzen. Die Euphorie jener Zeit lässt die Interessen der Verbraucher in den Hintergrund treten, für Risiken, die im Namen des Wachstums eingegangen werden, hat man nicht recht den Kopf.

Die Drogenkrise, die heute ein Symbol von Trumps Amerika ist, hat ihren Ursprung im boomenden Amerika des Demokraten Bill Clinton. …

OxyContin, das Mittel, mit dem das Elend anfing, hat die Sacklers zu einer der reichsten Familien Amerikas gemacht. …

Im März 2010 startete die Stadt Münster mit einer großen Eröffnungsfeier ein mehrjähriges Forschungsprojekt, das immer wieder als einzigartig beschrieben wurde. Münster solle “Schmerzfreie Stadt” werden, …

Deutschland ist nur einer von vielen Märkten, in die Purdue expandiert hat. 2011 ging das Unternehmen nach China, 2012 nach Russland und in die Türkei, 2013 nach Mexiko, Brasilien und Kolumbien. Alles Länder, in denen es eine große, zumindest wachsende Mittelschicht gibt, die nach Wohlstand strebt. Und nach einem Leben, in dem man nicht mehr so viel aushalten muss.

Deutsche Ärzte verschreiben Opioide immer noch zurückhaltender als amerikanische, unter anderem weil das Betäubungsmittelgesetz hier strenger ist. Im Jahrbuch Sucht 2017 schreiben die Autoren jedoch, dass die Medikamentenabhängigkeit auch in Deutschland stark angestiegen ist. Laut Krankenversicherungen gibt es in Deutschland schon 640.000 Langzeit-Opioidpatienten. Jeder vierte gilt als suchtgefährdet.

Der Hauptbestandteil von Targin, dem in Münster propagierten Mittel, ist übrigens Oxycodon, der Wirkstoff von OxyContin.”

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