[18.04.2017] DIE ZEIT, Nr. 16, 12.04.2017
Essay – Das liberale Versprechen der Moderne und der Rechtspopulismus
Demokratie – Wenn das Warten kein Ende nimmt – “Fortschritt für alle” hieß das große Versprechen der Moderne. Heute verliert es an Zugkraft. Ist das der Grund für die neue Macht des Rechtspopulismus?
Von Albrecht Kaschorke
“… So erklärt sich das merkwürdig doppelte Gepräge von Moralismus und Exzess, das populistische Bewegungen kennzeichnet. Und es erklärt zugleich, warum die populistischen Führer so gar nichts von dem haben, was man angesichts ihrer Dauerkritik an der Verlogenheit und Verderbnis der herrschenden Klasse erwarten würde: Sie sind keine Sozialrevolutionäre, keine asketischen Armutsprediger, die das Übel aus dem Gemeinwesen heraustreiben wollen, keine aufrechten, geradlinigen, unbestechlichen, jeder Korruption denkbar fernstehenden Männer. Sondern protzige Neureiche wie Silvio Berlusconi und Donald Trump, die noch aus ihrem skandalösen Lebenswandel Kapital schlagen. Populisten präsentieren sich nicht als politische Führungspersönlichkeiten, sondern laden gerade in ihren vulgären oder pubertär-unreifen Zügen zur Vergemeinschaftung ein. …
Nach Maßgabe des psychoanalytischen Modells besetzen die Sachwalter der Staatsvernunft die Position des “Über-Ich”. Ihre Amtsträger sind weniger das ausführende Organ politischer Instinkte und Wünsche; vielmehr treten sie als eine väterlich-erzieherische, zu Vernunft, Selbstbeherrschung, Kompromissbereitschaft und Geduld mahnende Instanz auf. Dieser Instanz die Gefolgschaft aufzukündigen und gegen die Entmündigung durch Expertenwissen und Political Correctness aufzubegehren verschafft eine Art von rebellischer Freude. …
In ihrem Buch Strangers in Their Own Land hat die amerikanische Ethnologin Arlie Russell Hochschild eine Tiefengeschichte entworfen, in der sich ihre Gesprächspartner in den verarmten Südstaaten der USA zutreffend dargestellt finden. Das Hauptmotiv lautet “cutting the line”: Da stehen die Menschen in einer langen Schlange den Hügel hinauf und warten darauf, dass auch sie ihren Anteil am American Dream erhalten. Das Warten wird ihnen lang, selbst durch harte Arbeit ist soziales Vorwärtskommen nicht mehr garantiert. Und dann kommen andere – Fremde und Nutznießer des Systems: Immigranten, Minderheiten, Arme – und drängeln sich vor. …
Eine wichtige Vorbedingung dafür ist die Bewahrung beziehungsweise die Wiedererkämpfung einer zivilen Öffentlichkeit; wir brauchen Institutionen für einen verlässlichen öffentlichen Diskurs, vor allem im digitalen Raum. Zudem müssen wir Formen des ökonomischen Ausgleichs finden, die auch in einer postindustriellen Gesellschaft Bestand haben. …”